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24.11.2023: Rede von Staatsministerin Ulrike Scharf im Bundesrat

1038. Sitzung des Bundesrates zu TOP 19 „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung“

Es gilt das gesprochene Wort

Wir alle hier sind vereint in der Sorge um unser Land und unsere Demokratie: Vereint in unserem Verfassungsorgan der Länder, vereint in der Nähe zu den Problemen der Menschen, vereint in der Suche nach pragmatischen, effizienten und auch tatsächlich vollziehbaren Lösungen für ihre Sorgen und Nöte.

Nach dem Wahlergebnis in den Niederlanden, nach den Prognosen für das wichtige Wahljahr 2024 müssen wir mit großer Sorge feststellen: Deutschland steht an einem Scheideweg.

Die Menschen verlieren Vertrauen, die Schwächsten und genauso die Leistungsträger verlieren Vertrauen, unsere Demokratie verliert Vertrauen. Deshalb müssen wir auch hier deutlicher als bisher formulieren: Der Entwurf zur Kindergrundsicherung hat hehre Ziele, die wir teilen. Mehr Familien erreichen, Zugang erleichtern, Kinderarmut bekämpfen – und das möglichst schnell.

Doch dieser Entwurf erreicht dies alles nicht. Im Gegenteil: Er ist ein Paradebeispiel für „gut gemeint, schlecht gemacht“. Auf der einen Seite: tausende neue Stellen (5.000) und 400 Mio. Euro Zusatzkosten im Jahr, im Jahr 400 Mio. – auch auf die Kommunen und Länder kommen für die Bildungs- und Teilhabeleistungen erhebliche Mehrkosten zu. Die Kommunalen Spitzenverbände laufen Sturm. Und das alles in einer der größten Haushaltskrise der Bundesregierung seit Jahrzehnten! Was steht neben den Kosten auf der anderen Seite, auf der Habenseite? Keine sofortige wuchtige Hilfe für die Familien, keine tatsächliche Neubemessung des Existenzminimus, wie vehement von den Sozialverbänden gefordert.

Da ist die Bundesregierung gerade auf dem sozialpolitischen Auge blind. Und dann das Potemkinsche Dorf der angeblichen Vereinfachung
.
Machen wir es konkret: Familie Meier bezieht Bürgergeld. Status quo des Vollzugs, von wem bekommt sie das Geld? Von EINER Behörde.

Nach dem Gesetzentwurf: In Zukunft können es DREI Behörden sein.

Nummer 1:
Kindergarantiebetrag, Kinderzusatzbetrag, pauschaler Zusatzbetrag, Schulbedarfspauschale  - der kürzlich gefeierte Loriot hätte seine Freude daran – Kindergarantiebetrag, Kinderzusatzbetrag, pauschaler Zusatzbetrag, Schulbedarfspauschale erhält unsere Familie Meier von der Familienservicestelle der BA.

Nummer 2:
Die zusätzlichen Kindbedarfe bekommt Familie Meier beim Jobcenter. Denn nach dem Entwurf bleiben SGB II und XII die Auffangsysteme. Die Meiers müssen auch im Falle von Einkommensverschlechterungen während des sechsmonatigen Bewilligungszeitraums zum Jobcenter.

Nummer 3:
Für die weiteren Bildungs- und Teilhabeleistungen müssen die Meiers zu einer dritten Behörde – welche bestimmen die Länder.

Das alles ist bitter, handwerklich und auch im Verfahren: statt Beteiligung der Fachleute ernst zu nehmen, heißt es in der Bundesregierung Augen zu und durch, Mund zu bei der Bundesagentur für Arbeit und Zensur gegenüber kritischen Fachleuten, Ohren zu gegenüber den engagierten Praktikern vor Ort. 

Fazit: ein riesiger Berg von Aufwand und Kosten gebiert eine Maus an Effekten – wenn überhaupt – und am Ende müssen Familien doch zu drei Ämtern rennen. Die Preissteigerungen treffen die Schwächsten am härtesten. Die Familien mit Kindern und geringem Einkommen und niedrigen oder gar keinen Rücklagen haben in ihrem Monatsbudget den höchsten Anteil an Konsumausgaben, an Mietnebenkosten, an Energiekosten. 

Was sollen sie denken über 400 Mio. Euro Bürokratiekosten? 
Was sollen sie denken angesichts der harten Abrechnung der Sozialverbände mit diesem Entwurf? 
Was soll ihnen Hoffnung und neues Vertrauen geben, wenn die Frau Bundesministerin extrem teure und wenig überzeugende technische Vereinfachungen in weiter Ferne preist, wenn sie gegenüber dem Finanzminister scheitert, und deshalb im Hier und Heute, im Jetzt der Gegenwart, in der akuten Notlage der ärmsten Kinder und Familien nur trocken Brot anbietet?

Deutschland schlingert, die Bundesregierung schlingert. Viele Menschen wenden sich ab und suchen Hoffnung bei den Vereinfachern aller Couleur. Unsere Demokratie braucht jetzt Handlungskompetenz, messbare Ergebnisse. Aber eines braucht unser Land nicht: noch mehr Marketingsprüche aus den Laboren der Werbeabteilungen. Noch mehr Symbolbegriffe, die sind längst hohl und schal. 

Davon haben die Schwächsten nichts – außer Frustration und Respektverlust gegenüber den Eliten. Die Familien mit niedrigem Einkommen, die am Monatsende jeden Euro umdrehen müssen, die Schwächsten, nämlich ihre Kinder, brauchen jetzt konkrete Hilfe. Dafür reichen wir die Hand. 

Dieser Verantwortung, die weit über rein materielle Fragen hinausgeht, die den Kern der Stabilität und des Vertrauens in unserer Demokratie tangiert, dieser Verantwortung wird dieser Entwurf nicht gerecht. 

Leider ein weiteres Symbol des Scheiterns an der Realität. 
Deshalb lehnt Bayern den Gesetzentwurf ab.